Über ein vorübergehend kraftloses Herz und den Trost, den ein einfaches Essen zu spenden vermag
Der 7. Dezember 1995 war ein Donnerstag - ich weiß es so genau, weil ich an diesem Tag vor 30 Jahren abends in größter Misere in einer Notaufnahme saß.
Mir wurde dort fürsorglich und verständnisvoll geholfen. Als ich am nächsten Tag wieder zu Hause war, noch lange nicht genesen, aber halbwegs klar mit allem, befolgte ich den Rat einer Neurologin: Ich sollte mich verwöhnen, vielleicht etwas essen, das gute Erinnerungen bei mir wecken würde. Ob ich gerne kochen würde? Aber ja. Doch.
Welches Gericht würde mich nach der Nacht im Krankenhaus an irgendwas Schönes erinnern? Kartoffelgratin. In einer allereinfachsten Variante. Drei Jahre zuvor war ich nach einer mehrtägigen Abschlussklausur in Frankfurt am Main zum Ende meiner PR-Ausbildung fünf Kilogramm leichter nach Hause zurückgekehrt, weil das Essen im Hotel über eine Woche lang so schlecht gewesen war. Ich bereitete mir damals dieses Gratin und einen Kopfsalat mit Essig und Öl zu. Andere mögen das langweilig finden, mich machte es glücklich. Außerdem fühlte ich mich ausgehungert, da schmeckt einfach alles besonders.
Dieser schlichte Auflauf erinnert mich bis heute an die Zufriedenheit, die ich nach überstandener Klausur empfand. An den Stolz, nach steinigem Weg ein Volontariat bekommen, abgeschlossen und sofort eine erste Stelle als PR-Assistentin erhalten zu haben. Schon wenig später war ich Veranstaltungsmanagerin und internationale PR- und Kommunikationsberaterin in der damals größten Agentur der Welt, wo ich die beste, weltweite, von Anerkennung und Respekt geprägte Unternehmenskultur kennenlernen durfte.
Butter, Kartoffelstärke, Sahne in einer Auflaufform und Hitze wirken Wunder.
Wir brauchen (für zwei Portionen):
Butter für die Form
600 g festkochende Kartoffeln
Salz, Pfeffer
Muskatnuss
200 ml Sahne
So geht's:
Backofen heizen auf 200 Grad / 180 Umluft
Eine kleine Auflaufform sehr großzügig buttern. Die Kartoffeln schälen und in ein Zentimenter dicke Scheiben schneiden. In die Form schichten und jede Schicht kräftig mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss würzen. Sahne angießen.
40 bis 45 Minuten im Ofen garen. Zwischendruch hin und wieder prüfen, ob die Kartoffeln weich sind.
An jenem Tag vor 30 Jahren war ich mir sehr sicher, dass es kein Herzinfarkt war. Ich gehörte nicht zur Risikogruppe und es gab keine genetische Veranlagung. Ich war Anfang 30, schlank, relativ sportlich und trainiert, hatte kein Gramm Fett am Körper und einen normalen Blutdruck. Aber mir war auch sehr klar: Ich brauchte mehr Luft, dringend Sauerstoff fürs Hirn und die Schmerzen in der Brust, in beiden Schultern und Oberarmen waren unerträglich.
Meine größte Panik war, bewustlos zu werden. Bewustlosigkeit ist Kontrollverlust, den ich sehr schlecht akzeptieren kann, seit ich als Mädchen und junge Frau schwere epileptische Anfälle gehabt hatte.
Ein japanischer Oberarzt schaute sich an, was beim EKG rauskam, in dieser Zeit noch als breiter, meterlanger Papierstreifen. Es folgte ein Ultraschall. Während der Untersuchung sagte er, ich sei bemerkenswert ruhig und gefasst, das wär doch schon mal gut. Und dann, milde lächelnd: "Haben Sie großen Kummer im Moment?"
Mir war dabei noch nicht klar, dass seine japanische Abstammung für die Diagnose von entscheidender Bedeutung war. Er war über die neuesten Erkenntnisse informiert durch aktuelle Studien aus seiner Heimat.
Ich rang immer noch nach Luft. Ja, sicher, ich hatte meine zwar nicht gut bezahlte, aber geliebte Arbeit in der Agentur verloren, weil Standorte in Deutschland geschlossen wurden. Der neue, unfassbar gut bezahlte Job in der Pressestelle eines großen Konzerns als Veranstaltungsleiterin war für mich neben schönen Events leider von einigen mobbenden Menschen, einem cholerischen Pressesprecher und einer nervenkranken Vorgesetzten geprägt. Ich musste mir also schon wieder eine neue Anstellung suchen. Selbst, wenn das Gehalt erneut sehr viel geringer sein würde. Und, ach ja, im Sommer hatte ich mich von meinem Partner getrennt. Nach mehr als zehn Jahren. Jahre größter Verbundenheit, Aufrichtigkeit meinerseits und Lügen seinerseits, die mich wie eine Lawine überrollten, als ich ihrer nach Jahren gewahr wurde.
Ein Internist kam hinzu, dann eine Neurologin. Als Schülerin und junge Frau hatte ich selbst in einem Krankenhaus als Aushilfe in der Pflege gearbeitet und war nun als Patientin mit Luftnot und Schmerzen im Brustkorb beeindruckt vom interdisziplinären Interesse an meinem Fall. Ich bekam Sauerstoff. Mein Hirn atmete buchstäblich auf, meine Schultern entspannten sich.
Die drei schauten sich meine Befunde an, auch das Labor war inzwischen fertig. Arterielles Blut: zu wenig Sauerstoff – ja, wusste ich selbst. Venöses Blut: Gut genug. EKG: Ja, da war was. Ultraschall: Da war etwas mit der linken Herzkammer.
Sie besprachen sich ruhig und leise. Dann stellte der Internist eine Frage: Wenn ich es mit einem Wort beschreiben müsste, was wär zuletzt passiert in meinem Leben, was wäre mir denn jüngst öfter begegnet oder widerfahren?
Inzwischen sorgte der Sauerstoff dafür, dass ich eine seltsam klare Wahrnehmung hatte. Ich hörte jedes Wort jeden Satzes in synästhetischen Farben. Mir fielen die Ohrringe der Ärztin auf und dass der Kardiologe zwei grell verschiedenfarbige Socken in den weißen Schuhen trug. Ich hörte die Klinikgeräusche nicht gleichzeitig, aber nebeneinander. Piepen der Geräte, raschelndes Papier, quietschende Schuhsohlen, klappernde Instrumente, Kanülen, die in Nierenschalen fielen, das Geräusch des Sauerstoffs, wie er aus den dünnen Schläuchen in meine Nase strömte. Stimmen vom Flur, Worte, die gerufen wurden und schnelle Schritte. Ich glaubte, meinen eigenen Augen beim Rollen zuzuhören.
Noch vor weniger als einer halben Stunde war mein bisheriges Leben vor meinem inneren Auge vorbeigerauscht, wenngleich ich dabei keine Todesangst empfand. Und dann diese Frage.
Ich schaute den Internisten an, der als Einziger keinen weißen Kittel trug. Was mein Leben bestimmt hatte bis hierhin? Ein Wort? "Verlust," anwortete ich. Dann brach ich, auch für mich selbst unvermittelt, haltlos in Tränen aus. "Wir behalten Sie heute Nacht hier," beschloss die Neurologin, doch ich schaute den Kardiologen an, den ich gerade in mein krankes Herz geschlossen hatte. Aber auf seiner Station könne er mir kein Bett anbieten, meinte er lächelnd. Er sei der Kinderkardiologe.
Ah, deswegen die bunten Socken. Sie entfernten die Sauerstoffzufuhr und setzten mich in einen Rollstuhl. Eine Krankenschwester telefonierte vor der Tür des Behandlungszimmers wegen eines Bettes. Ich durfte eine Nacht auf der Inneren in einem Einzelzimmer bleiben.
Die Neurologin und der Internist rollten mich dorthin. Ich saß auf der Bettkante, noch immer mit dem ganzen Körper Rotz und Wasser schluchzend. Die Schmerzen in der Brust hatten nachgelassen, ersetzt vom Gefühl eines gigantischen Muskelkaters.
"Ich bin froh, dass wir heute noch ein Einzelzimmer für Sie haben," sagte der Internist. "Hier können Sie sich ausweinen. Sie leiden unter einem gebrochenen Herzen, und, Ihrem EKG nach zu urteilen, offenbar schon länger."
Die Neurologin schlug vor, mir was zum Schlafen zu geben - nur, wenn ich wollte. Ich überlegte, wann ich zum letzten Mal überhaupt einige zusammenhängende Stunden in einer Nacht geschlafen hatte. Ich nahm das Schlafmittel.
Am nächsten Morgen wurde das EKG wiederholt. Der Befund blieb zunächst. Erst Ende des folgenden Jahres, 1996, waren alle Untersuchungen wieder unauffällig. Gebrochene Herzen können heilen: Nie aufgeben, viel lachen, tanzen bei jeder Gelegenheit, immer lieben. Selbst nach den größten Enttäuschungen.
Informationen zum Broken-Heart-Syndrome, gebrochenes Herz ⬇
Die japanische Tintenfischfalle Tako Tsubo gab dem Syndrom in den frühen 1990er-Jahren seinen Namen, als es von japanischen Ärzten erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde: Tako-Tsubo-Kardiomyopathie. Im Herzultraschall lassen sich Störungen in der Bewegung der linken Herzkammer erkennen. Durch diese Störung ähnelt die Silhouette der Herzkammer der Form der Tintenfischfalle, bauchig mit kurzem, engen Hals.
Es handelt sich um eine plötzliche Herzinsuffizienz, eine Pumpschwäche des Herzmuskels. Dabei ist die Fähigkeit der linken Herzkammer eingeschränkt, sauerstoffreiches Blut zurück in den Kreislauf zu pumpen. Dies kann lebensbedrohlich sein. Symptome wie Herzrasen, Atemnot und Schmerzen in der Brust müssen abgeklärt werden.
Ein Herzinfarkt entsteht, wenn die Herzkranzgefäße durch Blutgerinnsel verschlossen sind. Beim Broken-Heart-Syndrome ist das nicht der Fall. Dennoch benötigen Betroffene im Fall dieser spontan auftretenden Funktionsstörung des Herzmuskels medizinische Notfallhilfe. Ob es sich um einen Angina-Pectoris-Anfall, einen lebensbedrohlichen Infarkt oder das Broken-Heart-Syndrom handelt, die stress- und trauerbedingte Funktionsstörung, kann nur durch kardiologische Untersuchungen festgestellt und entsprechend therapiert werden.