
Eine Unterbrochene Fahrt des ICE 556 von Berlin nach Bonn
Die Zugführerin hatte es schon zuvor nicht leicht. Regelmäßig meldete sie sich über die Bordkommunikation mit neuen Nachrichten über den ICE, dem der ICE, in dem ich reiste, am Heck klebte. Oder anders ausgedrückt: "Wir stehen kurz hier, weil der ICE, der schon die ganze Zeit vor uns fährt, nun in den Bahnhof eingefahren ist. Sobald der weiterfährt, dürfen auch wir in den Bahnhof." Ihre größte Herausforderung kam erst noch.
Als ich in Berlin am frühen Freitag Nachmittag einstieg und meinen reservierten Platz suchte - Wagen 12, Platz 73, 1 Fenster, Großraum, Handy - ging unmittelbar hinter mir ein Bundestagsabgeordneter der gesichert als rechtsextrem eingestuften Partei und blieb an dem freien Platz neben mir kurz suchend stehen. Wenn dieser Typ mit Aktentasche und grauem Stoffbeutel mit Bundesadlermotiv den Platz neben mir eingenommen hätte, hätte ich mir einen anderen suchen müssen. Unter keinen Umständen reise ich von Berlin viele Stunden richtung Rheinland neben einem seitengescheitelten Faschisten.
Aber er ging weiter. Der Platz neben mir blieb trotz Reservierung leer. Ein junger Mann bat, sich dorthin setzen zu können. Aber gerne. Tatsächlich hätte er den Platz gegenüber dem AfD-Mann gehabt und fand es unerträglich, von Berlin bis Köln dort zu sitzen. Wir verstanden uns.
Es gab einen unvorhergesehenen Halt nach dem anderen, die Verspätungsminuten wurden mehr und mehr. Vor einem westfälischen Hauptbahnhof kam wieder die Durchsage, dass wir nun auf der Strecke kurz warten müssen, weil: der ICE vor uns...
Im Großraumabteil hatten sich inzwischen alle damit abgefunden. Hin und wieder wurde auf das Display geschaut, um zu sehen, wie viele Verspätungsminuten es inzwischen gab. Meine Ankunft zu Hause in Bonn? Sie war mittlerweile so ungewiss, dass ich die Idee eines auf die Schnelle selbstgemachten Abendessens mit etwas Wein längst aufgegeben hatte. Ich müsste dankbar sein, wenn es irgendwo noch eine Pizza zum Mitnehmen geben würde.
Irgendwann fuhr der Zug wieder an, um endlich den nächsten Halt im vor uns liegenden Hauptbahnhof zu erreichen. Er nahm Geschwindigkeit auf, dann war ein kurzes, dumpfes Geräusch zu hören. Es folgte das Gefühl, über ein Hindernis zu rollen, dann ein rumpelig-wackeliger Halt des Zuges. Wenige Minuten später die Zugführerin: "Ich bitte Sie alle sehr um Ihre gesteigerte Aufmerksamkeit, es ist wirklich sehr, sehr wichtig. Sie werden es am Geräusch und an der Art dieses Haltens möglicherweise gemerkt haben. Es gab einen Personenschaden mit diesem Zug. Ich halte Sie auf dem Laufenden, wie es weitergeht. Aber erstmal bleiben wir hier stehen. Rettungskräfte von Polizei und Feuerwehr sind unterwegs."
Kostenlose Getränke und Snacks im Bistro. Ich holte mir einen Tee und musste dafür an dem Fahrgast vorbei, den ich meiden wollte. Er saß allein auf einem Einzelplatz am Fenster. Der andere Einzelplatz ihm gegenüber war unbesetzt geblieben.
Ein Notarzt, zwei Sanitäter und zwei Polizisten gingen ruhig und leise durch unseren Wagen nach vorne zur Lok. Sie hatten mit ihrer Notfallausrüstung weiter hinten in den Zug einsteigen müssen, vorne war es nicht möglich. Die Zugführerin ging voran und forderte alle Reisenden im Abteilwagen auf, die Gänge freizumachen.
Es entwickelte sich eine stille, aber bemerkenswerte Großraumwagendynamik, bei der ein Fahrgast außen vor blieb. Da waren die drei älteren Damen auf einem Viererplatz, die sofort ihre Fahrgastrechte prüften und wieviel Fahrpreis sie erstattet bekommen bei wieviel Verspätung. Draußen war ein Mensch gestorben. Auf dem vierten Platz bei ihnen saß ein Herr, der diesen mit Sack und Pack verließ und sich auf einen anderen am Fenster setzte.
Er war Professor für Physik, der am Notebook unbeirrt die Arbeit eines seiner Studenten begutachtete und nun mit einem jungen Mann ihm gegenüber, einem Studenten, ein sehr freundliches Gespräch darüber führte.
Als ich mir kurz die Beine vertrat, meinte eine junge Frau auf dem Gang des Wagens mit Abteilen, sie könne es nicht gut in geschlossenen Räumen aushalten. Ich sagte ihr, es könnte schlimmer sein, als im Zug auf der Strecke zu stehen. Was, wenn wir uns in einem U-Boot befänden? Sie musste lachen und meinte, jetzt ginge es ihr tatsächlich besser.
Wir saßen und warteten. Wenn mein netter Sitznachbar oder ich aufstanden, fragten wir, ob wir dem anderen was aus dem Bistro mitbringen könnten. Ich fragte auch den Professor und den Studenten, sogar die nervigen alten Damen und war vorübergehend Wasserträgerin. Wen ich nicht ansprach, war der AFD-Mann. Mein Nachbar holte sich irgendwann später ein Bier und brachte wiederum mir ein Wasser mit. Die drei Damen waren weiterhin beschäftigt mit Fahrgastrechten.
Wir unterhielten uns. Ich war auf der Heimreise nach Bonn nach ein paar Urlaubstagen in Berlin, er lebte in Berlin und war auf dem Weg nach Köln zu einem Partywochenende mit Freunden. Wir redeten über Berlin, Bonn und Köln, darüber, wie großartig die Zugführerin kommunizierte: wahrheitsgemäß, sensibel und unverstellt. Wir spekulierten, wie es weitergehen könnte. Die Stimmung war zivilisiert, ruhig und gefasst. Alle unterhielten sich leise und vor allem miteinander. Niemand sprach mit dem AFD-Mann auf seinem Einzelplatz.
Mein Reisegefährte war Bahnmitarbeiter und hatte Zugang zu internen Informationen über diesen Unfall. Soweit nicht gegen Schweigepflichten verstoßend, ließ er mich daran teilhaben. So wusste ich, dass es in einer Nachbarstadt möglich wäre, vier Gelenkbusse bereitzustellen, falls unser Zug geräumt werden müsste.
Die Zugführerin mit neuen Informationen: "Unser Lokführer wurde nun abgeholt, es geht ihm nicht gut. Er sah wirklich nicht gut aus. Ein Ersatzlokführer wird in Kürze hier eintreffen." Draußen war ein Mensch gestorben, ein Lokführer würde für lange Zeit traumatisiert sein.
Ist der Zug noch fahrtüchtig oder die Lok so beschädigt, dass eine Weiterfahrt unmöglich ist? Dann hätte der Zug zurückgezogen werden müssen in einen Bahnhof, an dem alle sicher aussteigen könnten. Es würde mit Bussen zum vor uns liegenden Bahnhof gehen, um die Weiterreisemöglichkeiten zu prüfen. Nach dem Unfall war bereits alles verspätet und etliche Züge fielen aus. Ich stellte mich schon auf die Übernachtung irgendwo in Westfalen ein.
Neues von unserer großartigen Zugführerin: Ein Ersatzlokführer war eingetroffen. Neues von meinem Nachbarn: Der Zug war kaum beschädigt, Weiterfahrt möglich. Auch musste er außen nicht gereinigt werden. Die Zugführerin: "Wir setzen nun unsere Fahrt fort zum Haubtbahnhof vor uns. Der Gastroservice wird dort eingestellt, da die Bistromitarbeiter dann den Zug verlassen."
Langsam fuhr der nicht schwer beschädigte Zug, der nicht gereinigt werden musste, mit Ersatzlokführer wieder an. Wir verließen den Ort, an dem ein Mensch gestorben war und ein Lokführer traumatisiert wurde. Ich stellte mir vor, wie ein Triebwagen und seine Fensterscheiben aussehen, nachdem er mit 200 Stundenkilometern einen Menschen erfasst hat. Und verdrängte das Bild - möchte hier noch jemand was aus dem Bistro, bevor es geschlossen wird?
Dann war klar: Die Fahrt geht weiter bis Köln. Nicht über Bonn bis Koblenz, aber Köln! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Von Köln bis Bonn würde schon noch irgendwas fahren. Mein Reisegefährte informierte einen Kumpel, der bei einem Halt im Bergischen Land in den Zug steigen sollte, und empfing ihn an der Zugtür: Auf, zur Partynacht nach Köln.
Ich dachte noch immer an irgendein Abendessen, und sei es um Mitternacht. In Gedanken war ich in Berlin, wo die Zeit nicht gereicht hatte, um jemanden wiederzusehen, den ich sehr gern hab. Mir fiel ein, dass ich noch selbst gemachte Suppe im Gefrierschrank hatte – Nahrung für die Seele und mein Herz nach diesem Tag.
Die Zugführerin verabschiedete sich und dankte allen, die die Situation gemeinsam mit ihr und den Mitarbeitenden gestemmt und gemeistert hatten. Wir Großraumwagenreisenden stiegen in Köln vorne aus dem Wagen, mein Nachbar mit seinem Kumpel hinter mir und vor uns alle Fahrgäste aus den Abteilen sowie die drei Damen. Mein Gefährte und sein Freund trafen sich noch auf dem Bahnsteig mit einem Dritten im Bunde. Ich wünschte den Männern viel Spaß, sie mir eine gute Weiterfahrt und einen schönen, wenn auch späten Abend in Bonn. Die drei Damen winkten und lächelten uns im Vorbeigehen zu. Für einen kurzen Moment waren wir eine gutgelaunte und erleichterte kleine Gruppe. Wir verabschiedeten uns und dankten einander für die nette Gesellschaft während der gemeinsam verbrachten Stunden. Der Professor hatte sich bereits beim Halt im vorherigen Bahnhof verabschiedet.
Am anderen Ende des Wagens war der AFD-Mann ausgestiegen. Er stand ohne Gesellschaft auf dem Bahnsteig und nestelte vor der Zugtür an seinem Mantel und dem Bundesadlerstoffbeutel. Er war allein. Wir waren mehr.
